Bis zu 15 Prozent Zuwachs bei Photovoltaikanlagen pro Jahr, dazu immer mehr Wallboxen und Wärmepumpen: Auch in Ingelheim und Umgebung schreitet die Energiewende in großen Schritten voran. Tendenz immer mehr, immer schneller. Die Kehrseite: Die rasant wachsende Zahl der neuen Einspeiser und Verbraucher sorgt für große Herausforderungen im Verteilnetz. Ein Blick in das Herzstück der regionalen Energieversorgung – und wie die Fachleute sich heute für die Zukunft rüsten.
Sommer, Sonne, Einspeisung.
Auch in diesem Sommer brachten Juni und Juli die Menschen reichlich ins Schwitzen. Gleich an mehreren Wochenenden strahlte die Sonne 13 und mehr Stunden vom wolkenlosen Himmel, die Temperaturen knackten vielerorts die 30-Grad-Marke deutlich und sorgten für volle Schwimmbäder und Badeseen. „Was für die meisten Menschen Spaß und Vergnügen bedeutet, stellt uns im Netz vor echte Herausforderungen“, erklärt Christian Wendling vom Team der Netzbewirtschaftung bei der Rheinhessischen. „In der Region verzeichnen wir pro Jahr einen Anstieg von 10 bis 15 Prozent allein bei EEG-geförderten Anlagen – vorrangig im Bereich der Photovoltaik. Dazu kommen immer mehr Balkonkraftwerke. Sie alle speisen an solchen Tagen gleichzeitig reichlich Strom ins Netz ein, also dann, wenn Haushalte und Gewerbe besonders wenig verbrauchen. Das verursacht sogenannte Rückeinspeisungen in andere Netzebenen. Für diese Flussumkehr sind die aktuellen Netze nicht vorgesehen und konzipiert.“
Ein Beispiel für einen besonders anspruchsvollen Tag war der 2. Juli 2023. Damals blies ein kräftiger Wind durchs Land, gleichzeitig schien die Sonne. Photovoltaik und Windkraft deckten über 90 Prozent des Strombedarfs in Deutschland. „Das hört sich super an. Allerdings war die Einspeisung nachmittags so hoch, dass Deutschland ein Überangebot an Strom hatte und wir den Strom exportieren mussten. Das kostet dann sogar richtig Geld. Sonntagmittag gegen 14 Uhr musste in Deutschland der erzeugte Strom mit einem sagenhaften Aufpreis von 500 Euro je Megawattstunde ins Ausland verschenkt werden und in den Abendstunden teuer importiert werden, da sich der Wind schlafen legte und die Sonne naturgemäß unterging. Deutschland hat im Juni dieses Jahres so viel Strom importieren müssen, wie nie zuvor“, erinnert sich der Experte.
Ein paar Zahlen zur Energiewende in der Region.
Rund 1.000 dezentrale Anlagen speisen aktuell klimaschonenden Ökostrom ins Netz der Rheinhessischen – etwa 90 Prozent davon befinden sich auf den Dächern von Privatimmobilien. Die restlichen 10 Prozent, meist Blockheizkraftwerke, arbeiten in Industrieunternehmen. Dazu kommt ein kleines Wasserkraftwerk. Die Gesamtleistung der Ökokraftwerke umfasst etwa 22 Megawatt, genug, um rein rechnerisch rund 6.300 durchschnittliche Haushalte mit einem Verbrauch von 3.500 Kilowattstunden mit Strom zu versorgen. „Das würde aber nur funktionieren, wenn wir ausreichend Speicherkapazität dafür hätten. Denn beim Strom gilt das Prinzip der Gleichzeitigkeit von Produktion und Verbrauch. Aber Sonne und Wind halten sich naturgemäß nicht an diese Vorgabe. Die Erzeugung von Ökostrom hängt hier bei uns stark vom Wetter und von der Tageszeit ab“, ergänzt Christian Wendling.
Darum kommt es im Netz zu neuen Herausforderungen.
Früher floss Strom über verschiedene Spannungsebenen nur in eine Richtung – von den großen Kraftwerken hin zur Industrie und zu den Haushalten. „Da war es recht leicht, die Netzfrequenz stabil auf 50 Hertz zu halten, Voraussetzung für die sichere Versorgung der Region. Wir kannten die Lastprognosen sehr genau und konnten den Stromfluss aus den vorgelagerten Netzen entsprechend steuern und verteilen“, weiß Christian Wendling. Inzwischen ist das komplett anders. Denn in den Verteilnetzen mit Spannungen von 110 und 0,4 Kilovolt findet die Energiewende statt. Mehr und mehr große und kleine Erzeuger speisen schwankend Strom ins Netz ein und sorgen immer wieder für Gegenverkehr. Außerdem kommen ständig neue Verbraucher wie Wallboxen und Wärmepumpen mit stark wechselnden Lasten dazu. Dazu Christian Wendling: „E-Autos zapfen ungeplant Strom – an vielen verschiedenen Stellen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Mal zu Hause, mal vorm Supermarkt, mal an der Autobahn. Besser planbar, aber ähnlich problematisch verhält es sich bei Wärmepumpen. Wenn es draußen plötzlich kalt wird, wollen die Menschen natürlich eine warme Wohnung. Und das üblicherweise zeitgleich.“
So steht es aktuell um die Versorgungsicherheit.
Deutschlands Stromversorgung zählt zu den sichersten der Welt – trotz des Ausbaus erneuerbarer Energien. Das gilt auch für die Region. Stromausfälle, wie es viele aus dem Urlaub in Spanien, Italien oder den USA kennen, kommen bisher kaum vor. Die durchschnittliche Unterbrechung je Kund:in lag 2021 in Deutschland bei unter 13 Minuten im Jahr. Zum Vergleich: In Spanien müssen die Menschen durchschnittlich im Jahr über 50 Minuten ohne Strom auskommen, in den USA sogar 110 Minuten. „Bis dato sind wir in unserem Gebiet netztechnisch sehr gut aufgestellt. Im Netz der Rheinhessischen lag der Kennwert im vergangenen Jahr bei 2,1 Minuten. Da zahlen sich unsere Planungen aus der Vergangenheit aus. Wir haben die Netze immer recht gut ausgelegt. Deshalb gab es bislang noch keinen Engpass durch die neuen Anforderungen“, weiß Christian Wendling.
Damit das auch in Zukunft so bleibt, richtet die Rheinhessische das Augenmerk stark auf die politischen Entscheidungen, die aktuell auf der Agenda stehen. Dazu gehören der Ausbau der Elektromobilität, der geplante Hochlauf der Wärmepumpen und natürlich der Anschluss weiterer EEG-Anlagen. Und das Tempo wird sich massiv steigern. Nach den aktuellen Plänen soll sich allein die Photovoltaikleistung von derzeit über 63.000 Megawatt bis 2030 verdreifachen. Und spätestens mit den neuen Förderungen für Wallboxen im September 2023 und dem geplanten Heizungsgesetz werden viele neue Wärmepumpen und Ladestationen für Elektroautos ans Netz gehen. Noch ist auch diese Entwicklung in der Region überschaubar: Aktuell zapfen lediglich 600 Wärmepumpen und maximal 700 Ladestationen Strom aus dem hiesigen Netz.
Das plant die Rheinhessische für das Netz von morgen.
Ohne Netzausbau im Nieder- und Mittelspannungsbereich kann die Energiewende in der Region nicht gelingen. Das betrifft Leitungen und Anlagen wie Transformatorstationen gleichermaßen. „Für uns ist es jetzt entscheidend, dass wir Planungssicherheit erhalten. Denn Investitionen in die Netze sind kostspielig – ein Meter Kabel inklusive erforderlichem Tiefbau schlägt allein mit 150 Euro zu Buche. Wenn wir also jetzt das Netz der Zukunft ausarbeiten, sollte das Ganze auch noch in 30 bis 40 Jahren Bestand haben“, betont der Netzexperte. Dabei spielt nicht nur der Netzausbau eine Rolle, sondern auch das Thema Sichtbarkeit und Steuerung von Lastflüssen. „Die Digitalisierung des Verteilnetzes steht ganz oben auf unserer Liste, weil sich die Lasten im Netz künftig nicht mehr manuell steuern lassen. Anders als ursprünglich gedacht, brauchen die Hochspannungsnetze gar nicht so viel smarte Technik. Der Strom fließt hier weiterhin vorrangig in eine Richtung. Stattdessen kommt es viel mehr auf intelligente Verteilnetze an.“
Den Stromfluss sichtbar machen.
In der Stadt Ingelheim leben derzeit etwas mehr als 36.000 Menschen. Zusammen mit den Gewerbebetrieben brauchen sie in der Spitze rund 15 Megawatt Stromleistung. Die hatte die Rheinhessische früher einfach vom vorgelagerten Netzbetreiber bezogen und auf Haushalte und Industrie verteilt. „Aus Erfahrung wussten wir, wer wann wie viel Strom benötigt, und haben entsprechend beschafft und verteilt“, erzählt Christian Wendling. Doch das funktioniert heute nicht mehr so. Denn immer mehr Strom gelangt direkt ins Niederspannungsnetz – aus Anlagen von Privatleuten oder Gewerbebetrieben. Diese grundsätzlich wünschenswerte Entwicklung stellt die Rheinhessische vor ein Problem, das sich nur mit moderner Technik lösen lässt. Dazu Christian Wendling: „Wir müssen sichtbar machen, wo genau und wie lange an welchem Ort elektrische Energie eingespeist oder verbraucht wird. Nur mit diesem Wissen können wir Lastflüsse steuern.“ In mehreren Pilotprojekten gewinnt die Rheinhessische bereits wertvolle Erkenntnisse über den Lastfluss im Verteilnetz. Bei einem davon messen die Fachleute, was genau in den Trafostationen passiert – ob die Stromstärke etwa durch die Einspeisung auf den sogenannten Abgängen steigt und wann sich was wie verteilt. „Das Ziel ist natürlich, dass die Anlage keinen Sicherungsfall auslöst und die Versorgung unterbricht“, erklärt Christian Wendling. Und ergänzt: „Diese Messungen zeigen uns, welche Trafos wir dringend nachrüsten müssen, weil sie an ihre Grenzen stoßen.“
Neue Chancen durch Smart Meter.
Die Versorgungssicherheit von morgen hängt folglich direkt von zwei Faktoren ab: Expert:innen der Rheinhessischen messen und kennen damit die Ein- und Ausspeisungen im Verteilnetz exakt und zu jedem Zeitpunkt. Darüber hinaus müssen sie notfalls in der Lage sein, aus der Ferne in den Betrieb von Anlagen wie Wärmepumpen, Nachtspeicherheizungen und Ladestationen einzugreifen. Eine entsprechende gesetzliche Grundlage bereitet die Bundesnetzagentur aktuell vor. „Sie soll uns ermöglichen, etwa eine Wärmepumpe runterzuregeln – eine Zustimmung der Betreiber ist laut dem Gesetzentwurf ab bestimmten Leistungsgrößen nicht erforderlich“, führt Christian Wendling aus. Das heißt nicht zwangsläufig, dass es dann direkt kalt im Haus wird. Denn üblicherweise verfügen auch Wärmepumpenheizungen über Speicher. „Verglichen mit Glühlampen reagieren Heizungen extrem träge“, weiß der Experte. Und normalerweise sollte es sich um Minuten oder maximal wenige Stunden handeln, in denen die Rheinhessische die Wärmepumpenleistung einschränkt. „Es geht üblicherweise nur darum, eine Lastspitze zu kappen und einen kurzfristigen Engpass zu überbrücken“, ergänzt Christian Wendling. Für die Bereitschaft, im Bedarfsfall als Puffer zu fungieren, gibt es natürlich einen Bonus in Form geringerer Netzentgelte. So zumindest sehen es die aktuellen Planungen vor.
Für mehr Transparenz im Verteilnetz sollen in Zukunft auch intelligente Zähler, sogenannte Smart Meter, sorgen. Die klugen Geräte erfassen den Haushaltsstromverbrauch und die Einspeiseleistung etwa der Photovoltaikanlage auf dem Dach in Echtzeit und übermitteln die Daten an den jeweiligen Netzbetreiber. Der Gesetzgeber schreibt den Einbau der Smart Meter ab 2025 für alle mit einem Jahresstromverbrauch von mehr als 6.000 Kilowattstunden oder einer Photovoltaikanlage mit mehr als sieben Kilowatt installierter Leistung verpflichtend vor. Noch steckt das Projekt allerdings in den Kinderschuhen. Bislang wurden deutschlandweit gerade mal 400.000 Smart Meter eingebaut, in der Region sogar nur fünf. Christian Wendling dazu: „Wir hoffen sehr, dass sich dieser Prozess durch den Neustart des Gesetzes zur Digitalisierung der Energiewende beschleunigt. Aus meiner Sicht ist das die Technik, die uns fehlt, um den Verbrauch und die Erzeugung transparent für alle darzustellen – auch für die Kundinnen und Kunden. Das bietet wiederum auch ihnen die Chance, zum Beispiel dann das E-Auto zu laden, wenn die Photovoltaikanlage ausreichend Strom erzeugt. Oder in Zukunft einen günstigeren Tarif zu wählen.“
„Noch steckt der Smart-Meter-Rollout in den Kinderschuhen. Bislang wurden deutschlandweit gerade mal 400.000 Geräte verbaut, in der Region sogar nur fünf.“
Christian Wendling, Netzbewirtschaftung