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©Martin Leclaire
AufbäumenRegional

Hey Stadtwald, wie geht’s?

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Herzstück und grüne Lunge der Region, Naherholungsgebiet und Wirtschaftsmotor. Der Ingelheimer Stadtwald erfüllt viele Funktionen. Und doch ist er vor allem eins: ein hochkomplexes Ökosystem, das zunehmend aus dem Gleichgewicht gerät. Überall knarzen und ächzen die Bäume unter den Folgen der Klimaerwärmung, das Wasser wird knapp und dann zwickt auch noch der Borkenkäfer. In diesem Interview kommt der grüne Gigant selbst zu Wort – erzählt, wie es um seine Gesundheit steht und was er sich für die Zukunft wünscht. Ein Gespräch mit dem Wald.

Einblicke: Guten Tag Wald, schön dass du dir heute Zeit für uns genommen hast.

Wald: Sehr gerne. Schönen guten Tag, Wald mein Name. Die meisten kennen mich wahrscheinlich als Ingelheimer Stadtwald. So heiße ich jetzt seit gut 800 Jahren. Natürlich bin ich eigentlich viel älter ..., aber das muss ja niemand so genau wissen, nicht wahr?

Natürlich nicht, fällt aber auch gar nicht auf. Du hast dich gut gehalten.

Vielen Dank! Zugegeben, es ist ganz schön viel Arbeit, 1.200 Hektar so lange in Schuss zu halten. Meine lieben Kinder, die Bäume, kamen und gingen. Viele hatten ein langes, erfülltes Baumleben und wurden Hunderte von Jahren alt. Da wächst man über die Zeit einfach zusammen. Ich kann mich auch über eine rege Tierwelt freuen: Hirsche, Rehe, Wildschweine, Vögel und jede Menge Insekten – sie alle leisten mir bis heute Gesellschaft. Da ist immer was los. Trotzdem musste ich über die Jahrhunderte auch ziemlich viel mitmachen. Es waren mitunter harte Zeiten, selbst wenn man mir das auf den ersten Blick nicht ansieht.

Was war denn los?

Meine ganze Lebensgeschichte würde hier den Rahmen sprengen. Aber ein bisschen kann ich wohl erzählen. Ich hatte viele gute Jahre, da ging es mir und meinen Kindern prächtig. Alles wuchs und gedieh. Und daran ließ ich auch die Menschen gerne teilhaben. Sie jagten Wild, versorgten sich mit Holz oder suchten Zuflucht. Mit der Zeit rückte aber der Profit immer mehr in den Fokus. Klar, Holz ist ja auch ein wertvoller Rohstoff. Allerdings fehlte lange die nötige Wertschätzung für die Produkte aus dem Wald.

Über Jahrhunderte litt ich stark unter der Ausbeutung, hatte kaum Gelegenheit, mich zu regenerieren und neue Bäume nachwachsen zu lassen. Lange Zeit lebten auch Köhler unter meinen Wipfeln. Sie stellten Holzkohle her, die für die Eisengewinnung in sehr großen Mengen benötigt wurde. Die haben mich ganz schön ausgenommen. Überhaupt ging es nur noch um mehr, mehr, mehr. Meine Gesundheit spielte da kaum eine Rolle. Das waren harte Zeiten. Erst mit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts setzte langsam ein Umdenken ein.

Mit unserer Aktion „Gemeinsam Aufbäumen“ pflanzen wir für jede Umstellung auf papierlose, digitale Post automatisch einen Baum im Ingelheimer Stadtwald!

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Das heißt konkret?

Ingelheim war schon früh sehr fortschrittlich. Während anderswo noch schwere Maschinen fuhren, wurde bei uns schon der naturnahe Waldbau praktiziert. So gab es in den 1960er- und 1970er-Jahren sogar ein stadteigenes Rückepferd, um das Holz schonend aus dem Wald zu transportieren. 1988 beschloss der Stadtrat Ingelheim dann offiziell, fortan ausschließlich nach den Grundsätzen der Arbeitsgemeinschaft für Naturgemäße Waldwirtschaft zu arbeiten. Das bedeutet, dass die Forstwirtschaft nicht mehr gegen die Natur arbeitet, sondern mit ihr im Einklang handelt sowie deren Prozesse begleitet und unterstützt. Diese Umstellung hat mir sehr gutgetan.

Zugegeben, so richtig Fahrt nahm das Ganze erst nach dem schlimmen Sturm 1990 auf. Da hat’s mich echt voll erwischt. Bis dahin bestand ich noch zu etwa 60 Prozent aus Fichten, die auf ungefähr 700 Hektar in Monokulturen angebaut waren. Die sind schön schnell und gerade gewachsen, waren also perfekt für die Sägewerke. Leider halten sie extremen Wetterbedingungen nicht so gut stand und haben mit dem Klimawandel zu kämpfen. Nach dem Sturm waren auf einen Schlag 50 Prozent weggepustet, einfach umgefallen wie Streichhölzer. Ich hatte riesige Löcher in meinem schönen grünen Kleid.

Oh je, das hört sich schlimm an! Wie wurde das wieder geflickt?

Im Prinzip war es Glück im Unglück. Zwar wurde ein großer Teil meines Baumbestandes zerstört. Allerdings hatten die Förster so auch die Chance, die Phase der Monokulturen zu durchbrechen und mehr Diversität zu schaffen. Denn anstatt einfach wieder neue Fichten anzupflanzen, bekam ich Zuwachs von Buchen, Eichen, Weißtannen, Birken und vielen anderen. So wie ich es selbst gemacht hätte, die Waldarbeiter haben mich bloß bei meiner natürlichen Regeneration unterstützt. Über die Jahre wurde es auch im Rest meines Baumbestandes immer bunter. Wir sind jetzt eine richtige Patchwork-Baumfamilie. Das ist toll! Nur mache ich mir große Sorgen um meine Kinder.

Wieso, geht es ihnen nicht so gut?

Ich muss ehrlich sein. Ich bin zwar noch schön grün. Aber auf den zweiten Blick sieht es eher schlecht aus. Die vergangenen Jahre waren nicht einfach für uns Wälder. Das Klima wird heißer und es regnet immer weniger. Mir und meinen Bäumen macht das zu schaffen. Wir haben alle großen Durst. Durch den Klimawandel und die stetig steigenden Temperaturen hatten wir allein in den vergangenen vier Jahren ein Niederschlagdefizit von mindestens 300 Millimetern. Das Wasser fehlt jetzt im Boden. Ich als Wald sehne mich nach kontinuierlicher Feuchtigkeit, etwa durch Schnee oder Nieselregen. Allerdings entladen sich Regenwolken in letzter Zeit immer heftiger. So viel Wasser kann ich auf einmal gar nicht aufnehmen, obwohl ich es dringend brauche. Also nein, es geht mir und meinen Kindern nicht wirklich gut.

Kämpfst du nur mit der Trockenheit? Oder setzt dir noch etwas anderes zu?

In den vergangenen Jahren bin ich sehr gebrechlich geworden. Wenn ich morgens aufstehe, schmerzt es überall. Die Trockenheit ist aber wohl mein größtes Gebrechen. Wasser ist eben existenziell wichtig. Mich erreichen immer öfter Hilferufe von Bäumen, denen die Reserven ausgehen. Sie trocknen von der Krone her aus, weil von unten nicht mehr genug Wasser nachkommt. Die meisten sterben schließlich. Manche von ihnen waren über 100 Jahre alt. Vielen geht es sehr schlecht, etwa der Fichte. Sie hält als Flachwurzler nicht mehr lange durch. Da sind die tiefwurzelnden Laubgehölze oder auch die Weißtannen klar im Vorteil. Am tapfersten schlagen sich noch die Eichen. Sie lassen einfach eine zweite Krone weiter unten austreiben. Clever, oder? Durch die Trockenheit sind meine Bäume auch anfälliger für Schädlinge wie den Borkenkäfer. Oft sind ganze Waldabschnitte betroffen. Hier müssen mir die Förster dann unter die Äste greifen und die kranken Bereiche teilweise abholzen. Dann pflanzen sie wieder gesunde kleine Bäumchen nach. An manchen Stellen lassen sie abgestorbene Bäume auch einfach stehen. Sie bieten den neuen Keimlingen Schutz.

Wie können wir dir helfen?

Die Forstwirte tun, was sie können, um mein Ökosystem stabil zu halten. Sie arbeiten hart daran, die Lebensgrundlagen für Baum und Tier zu verbessern, erschließen Nassflächen oder lassen Totholz – also abgestorbene Bäume – stehen oder Äste liegen. So entsteht neuer Wohnraum für Insekten und Würmer. Auch um die Tierwelt kümmern sich die Waldarbeiter liebevoll. Sie passen auf, dass die Hirsche und Rehe nicht die Knospen und Triebe der Bäume oder neu gepflanzte Setzlinge anknabbern. Allein in den vergangenen Monaten haben sie schon eine halbe Tonne Vogelfutter verteilt! So erreichen sie, dass der Lebensraum für viele Vogelarten auch im Winter interessant bleibt und sie nicht abwandern. Klar ist aber auch, dass sich mit dem Voranschreiten des Klimawandels die Bedingungen für uns heimische Wälder immer weiter verschlechtern.

Was wünschst du dir für die Zukunft?

Vor allem eins: mehr Wertschätzung für die Natur und uns Wälder. Wir müssen zusammenarbeiten und nicht gegeneinander. Nur so kann ich in Zukunft überleben. Immerhin bin ich unschätzbar wichtig – als Naherholungsgebiet, Rohstofflieferant und vor allem als Sauerstoffproduzent. Ohne mich wäre die Luft ziemlich dünn.

Deshalb wünsche ich mir mehr Wald und weniger Wirtschaft, mehr Raum für ökologische Diversität und mehr Verständnis für meine Bedürfnisse und die meiner Bewohner. Wir sind nicht nur irgendeine Zahl in einer Bilanz. Wir sind die grüne Lunge der Erde. Und somit unverzichtbar – heute, morgen und in Zukunft.

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